Zivilcourage & Selbstschutz – Handlungssicherheit im Ernstfall

Zivilcourage & Selbstschutz – Handlungssicherheit im Ernstfall

Rechtliche Klarheit, ethische Orientierung und praktische Kompetenz für den Ernstfall

Veröffentlicht: 29. Mai 2025 Aktualisiert: 29. Mai 2025, 22:52 Uhr
Mathias Ellmann

Mathias Ellmann – Autor & Trainer für Kickboxen sowie Dozent für IT-Kompetenz & Gesellschaft. Mehr auf gerechte-selbstbehauptung.de

Hintergrund

Sicherheitsdebatten in Deutschland fokussieren zunehmend auf technische Überwachung – Gesichtserkennung, KI-gestützte Analyse, Videoauswertung. Doch was ist mit der Handlungsfähigkeit der Bürger:innen selbst? Der Messerangriff am Hamburger Hauptbahnhof im Mai 2025 hat deutlich gemacht, wie verletzlich offene Gesellschaften sind, wenn Gewaltsituationen im öffentlichen Raum eskalieren.
Zur Analyse: KI-Überwachung am Hamburger Hauptbahnhof – Ethik, Recht und Alternativen

Viele fragen sich: Warum konnte niemand eingreifen – obwohl laut Polizei 18 Menschen verletzt wurden? Warum handeln in solchen Momenten so wenige? Die Antwort liegt nicht in Feigheit, sondern in einer Mischung aus Stressreaktionen („Freeze“), Bystander-Effekt, rechtlicher Unsicherheit und fehlender Selbstschutzkompetenz. Genau hier setzt dieser Beitrag an.

Doch es gab auch Hoffnung: Am Freitagabend wurde Muhammad al-Muhammad, ein 19-jähriger Geflüchteter aus Aleppo (Syrien), am Hamburger Hauptbahnhof Zeuge der Tat – und handelte. Gemeinsam mit einem Tschetschenen stoppte er die Angreiferin, indem sie ihr den Weg versperrten, sie überwältigten und festhielten, bis die Polizei eintraf. Ihr mutiges Eingreifen verhinderte möglicherweise weiteres Leid.
Zur NDR-Reportage über Zivilcourage

Dieser Beitrag versteht sich nicht als Anleitung zur Gewalt, sondern als Plädoyer für ethisch fundierte Selbstbehauptung: Körpersprache, Stresskompetenz und kommunikative Deeskalation sind essenzielle Ressourcen einer resilienten, demokratischen Gesellschaft.

Wer nur auf Technologie setzt, übersieht den Menschen. Eine kluge Sicherheitskultur braucht nicht nur Kameras, sondern Kompetenzförderung – vom Klassenzimmer bis zur U-Bahnstation. Nur wenn Bürger:innen wissen, wie sie handeln dürfen und können, entsteht echte Prävention.

Die Geschichte von Muhammad al-Muhammad ist ein Beispiel gelebter Verantwortung – jenseits von Herkunft, Alter oder Beruf. Sie zeigt: Zivilcourage ist keine Frage von Amt oder Ausbildung, sondern von Haltung, Wissen und Mut im richtigen Moment.

Gesellschaftliche Verantwortung

Eine demokratische Gesellschaft lebt von Beteiligung und gegenseitiger Verantwortung. Dazu gehört auch: nicht wegsehen, wenn Mitmenschen in Not geraten – ohne sich selbst zu gefährden. Zivilcourage ist kein Heldentum, sondern Ausdruck von Mitgefühl, sozialer Verantwortung und ethischer Wachheit.

Doch Zivilcourage ist keine Selbstverständlichkeit. Sie braucht Kompetenz, Selbstwirksamkeit und Handlungssicherheit. Wer helfen will, muss wissen, wie – und das bedeutet: trainierbare Fähigkeiten, rechtliches Wissen und emotionale Stabilität. Das beginnt nicht erst in der Krise, sondern in Bildung, Erziehung und öffentlicher Kultur.

Um Zivilcourage fördern zu können, braucht es geschützte Lernräume, in denen Menschen üben dürfen, ohne Angst vor Blamage oder Überforderung. Räume, in denen Fehler Teil des Lernens sind – und in denen individuelle Grenzen ebenso geachtet werden wie das gemeinsame Ziel: eine Gesellschaft, die nicht abstumpft, sondern Verantwortung lebt.

Dieser Beitrag will Mut machen: Zivilcourage ist nicht angeboren, sondern entwickelbar. Sie wächst dort, wo Vertrauen, Reflexion und strukturelle Förderung zusammenkommen – in Schulen, im Sport, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft. Die Frage ist nicht nur: Was hätte ich getan?, sondern: Wie will ich vorbereitet sein, wenn es darauf ankommt?

Gesellschaftliche Verantwortung beginnt im Kleinen – im Alltag, in Gesprächen, in der Bereitschaft, sich einzumischen, wo Werte verletzt werden. Es braucht keine heroischen Taten, sondern eine Kultur des Hinsehens, Zuhörens und gemeinsamen Handelns – getragen von gegenseitigem Respekt.

In einer Zeit wachsender Polarisierung, digitaler Verrohung und sozialer Kälte wird Zivilcourage zur zivilisatorischen Ressource. Wer andere schützt, schützt auch das Gemeinwesen – durch Haltung, durch Präsenz und durch das Vorbild, das er oder sie gibt.

Grundlagen der Selbstbehauptung

Notwehr bei unberechenbaren Angreifern – Handlungsfähigkeit für Ungeübte

In Bedrohungssituationen mit unberechenbaren, häufig psychisch instabilen Personen – wie im Fall der Messerattacke am Hamburger Hauptbahnhof – steht nicht der Kampf im Vordergrund, sondern das Ziel: den Angreifer kurzfristig aus dem Gleichgewicht bringen, Distanz schaffen und eine Fluchtmöglichkeit eröffnen. Dafür braucht es keine Kampferfahrung – sondern einfache, direkt wirksame Techniken, die auch von Ungeübten unter Stress ausgeführt werden können.

Alle Maßnahmen zielen auf eines: Handlungsfreiheit durch Flucht oder Schutz Dritter. Sie sind realitätsnah, schnell erlernbar und auch ohne Vorerfahrung abrufbar – wenn sie bewusst trainiert und mental vorbereitet wurden.

Das Notwehrrecht (§ 32 StGB) schützt auch entschlossene körperliche Abwehr, sofern sie notwendig, geeignet und verhältnismäßig ist. Auch die vorläufige Festnahme durch Privatpersonen (§ 127 StPO) ist erlaubt, wenn sie der Gefahrenabwehr dient – vorausgesetzt, sie erfolgt besonnen und ohne unnötige Härte.

Rechtliche Grundlagen von Zivilcourage

Wer in einer akuten Gefahrensituation handelt – wie am Hamburger Hauptbahnhof im Mai 2025 – benötigt rechtliche Klarheit. Das deutsche Recht schützt couragiertes Eingreifen, wenn es verhältnismäßig, verantwortungsvoll und auf Gefahrenabwehr gerichtet ist.

Fazit: Das Eingreifen war juristisch zulässig, ethisch vertretbar und praktisch wirksam. Die Männer agierten im Einklang mit den geltenden Normen – besonnen, mutig und abgestimmt. Zivilcourage ist in solchen Fällen nicht nur legitim, sondern Teil des rechtlich geschützten und gesellschaftlich erwünschten Handelns.

Solches Wissen stärkt die Handlungssicherheit von Bürger:innen – besonders in Bildung, Jugendarbeit, Sicherheitsausbildung und Ehrenamt. Denn wer weiß, was erlaubt ist, kann im Ernstfall mutiger und klarer reagieren.

Es empfiehlt sich, diese rechtlichen Grundlagen regelmäßig in praxisnahen Trainings oder Workshops zu thematisieren – insbesondere im Kontext von Schule, öffentlichem Dienst und zivilgesellschaftlichem Engagement. Rechtliches Wissen ist kein Spezialwissen – sondern Bürger:innenkompetenz im besten Sinne.

Wer Zivilcourage fördert, stärkt das Fundament des Rechtsstaats – denn gelebtes Recht beginnt dort, wo Menschen Verantwortung übernehmen, anstatt sich zurückzuziehen. Rechtliche Aufklärung ist somit auch Demokratieförderung.

Gerechte Selbstbehauptung

Die Gerechte Selbstbehauptung ist ein ethikorientiertes Handlungsmodell, das auf den drei tragenden Werten Respekt, Verantwortung und Gerechtigkeit basiert. Es wurde entwickelt, um in sozialen und bedrohlichen Situationen nicht nur sicher, sondern auch moralisch integer zu handeln.

In akuten Gefahrensituationen – wie dem Angriff am Hamburger Hauptbahnhof – hilft das Modell, komplexe Entscheidungen unter Druck zu strukturieren. Es bietet eine innere Leitlinie: Wie kann ich helfen, ohne selbst zur Gefahr zu werden? Wo liegt meine Verantwortung – und wie bleibe ich gerecht gegenüber allen Beteiligten?

Ein Beispiel: Wer wie Muhammad al-Muhammad mutig eingreift, kann sich an diesen drei Werten orientieren – statt aus Wut, Angst oder Aktionismus zu handeln. Die Werte wirken deeskalierend, handlungsleitend und ermöglichen zivilgesellschaftliches Engagement mit innerer Klarheit.

Gerechte Selbstbehauptung umfasst neben dem ethischen Entscheidungsrahmen auch ein tiefes Verständnis der kommunikativen Ebenen einer Situation: verbal (Inhalt), paraverbal (Stimme, Tonfall, Betonung) und nonverbal (Körpersprache, Mimik, Gestik). Wer diese Ebenen bewusst wahrnimmt und steuert, kann nicht nur wirksam deeskalieren, sondern auch manipulatives oder bedrohliches Verhalten frühzeitig erkennen und entsprechend reagieren.

Wer diese kommunikativen Ebenen trainiert und mit dem Wertekompass der gerechten Selbstbehauptung verbindet, kann auch ungerechte Selbstbehauptung – wie etwa durch die Täterin im beschriebenen Fall – schneller einordnen. Dies schafft die Voraussetzung, in kritischen Momenten klar, gerecht und wirksam zu handeln.

Die Anwendung des Modells kann in verschiedenen sozialen Kontexten geübt werden – etwa in Rollenspielen, Reflexionsgesprächen oder realitätsnahen Fallanalysen. Ziel ist es, ethische Selbstbehauptung als gelebte Praxis im Alltag zu verankern – in Schule, Beruf und Öffentlichkeit.

Besonders in pädagogischen, sozialen und sicherheitsrelevanten Arbeitsfeldern kann die Gerechte Selbstbehauptung dazu beitragen, moralische Dilemmata handhabbar zu machen – durch ein wertebasiertes, strukturiertes Entscheidungsgerüst.

Vertiefende Inhalte, Reflexionsimpulse und praxisnahe Methoden zur Gerechten Selbstbehauptung finden Sie auf der offiziellen Website:
www.gerechte-selbstbehauptung.de

Körperkarten der Emotionen

In extremen Gefahrensituationen – wie dem Messerangriff am Hamburger Hauptbahnhof – ist schnelles, intuitives Reagieren entscheidend. Doch die Fähigkeit, richtig zu handeln, beginnt oft mit der Wahrnehmung körperlicher Signale.

Die „Body Maps of Emotions“, entwickelt von Nummenmaa et al. (2014), zeigen eindrucksvoll: Emotionen wie Angst, Wut, Ekel oder Mut aktivieren unterschiedliche Regionen im Körper. Diese Muster sind messbar und kulturell übergreifend relativ konstant.

In Gefahrensituationen äußert sich Angst häufig als Druckgefühl in Brust und Kopf, Enge im Hals oder Zittern in den Gliedmaßen. Wer diese somatischen Marker erkennt, kann seine Reaktion – Flucht, Erstarren oder Eingreifen – besser reflektieren und gezielter handeln.

Muhammad al-Muhammad beschrieb, dass er sich „Mut gemacht“ habe – ein innerer Prozess, bei dem vermutlich Angst körperlich präsent war, aber durch ein bewusstes Umlenken in Handlung überführt wurde. Das ist trainierbar: Wer sich der Körperreaktionen bewusst ist, kann sie aktiv steuern – zum Beispiel durch Atemregulation, Fokussierung oder mentales Reframing.

In der praktischen Anwendung bedeutet das: Wir schulen mit der Körperkarte nicht nur das Erkennen von Emotionen, sondern auch die Entscheidungskompetenz in stressintensiven Momenten. Das erhöht die Handlungssicherheit – ohne Überforderung oder fahrlässigen Aktionismus.

Die Kenntnis körperlicher Emotionen ist daher kein esoterisches Detail, sondern ein Schlüssel für verantwortungsvolle, reflektierte Selbstbehauptung – eingebettet in eine ethische und rechtliche Gesamtperspektive.

Reaktivität und Proaktivität

In akuten Bedrohungslagen – wie dem Messerangriff am Hamburger Hauptbahnhof – zeigt sich deutlich, ob Menschen reaktiv oder proaktiv handeln. Viele Anwesende erstarrten, riefen um Hilfe oder zogen sich zurück. Nur wenige griffen aktiv ein. Warum?

Reaktive Personen bewegen sich primär im Interessenbereich – ein Konzept, das auf Stephen R. Covey zurückgeht. Anne van Stappen konkretisiert dieses Modell durch vier typische innere Reaktionsmuster, die sie als „4 C“ bezeichnet:

Diese Reaktionsmuster binden Energie, erzeugen Stress und verhindern entschlossenes Handeln – ein möglicher Grund, warum viele am Tatort nicht aktiv wurden.

Proaktivität hingegen bedeutet, im Einflussbereich zu handeln – also das zu tun, was im eigenen Ermessen möglich ist. Muhammad al-Muhammad handelte nicht impulsiv, sondern reflektiert, wertebasiert und gemeinsam mit einem Mithelfer. Genau das ist Proaktivität unter realem Druck – im Sinne Coveys, konkretisiert durch van Stappen.

Vier innere Qualitäten proaktiver Menschen (nach Anne van Stappen)

Wer diese Qualitäten kultiviert, kann auch in hochdynamischen Bedrohungssituationen überlegt handeln – ohne in Schock, Passivität oder blinden Aktionismus zu verfallen. Proaktive Zivilcourage ist lernbar – durch Wertearbeit, Training und Reflexion.

Das PROACT-Modell – angewendet auf Zivilcourage am Hauptbahnhof

Das PROACT-Modell – ein ursprünglich von US-amerikanischen Kognitionspsychologen entwickelter Entscheidungsrahmen, bekannt durch Hammond et al. – wurde von Levin in acht anwendungsorientierte Schritte überführt. Es unterstützt dabei, auch in komplexen und potenziell gefährlichen Situationen reflektierte Entscheidungen zu treffen. Im Fall der Messerattacke am Hamburger Hauptbahnhof im Jahr 2025 orientierte sich Muhammad al-Muhammad intuitiv an vergleichbaren Entscheidungsmustern. Im Folgenden wird das Modell exemplarisch auf diesen Fall angewendet.

Fazit: Der Vorfall zeigt, dass auch in hochdynamischen Gefahrensituationen eine strukturierte Entscheidungsfindung möglich ist – sofern Werteorientierung, Handlungskompetenz und situatives Urteilsvermögen ineinandergreifen. Das PROACT-Modell dient dabei als praxistaugliches Instrument für verantwortungsvolles Handeln unter Unsicherheit. Ethisches, problemlösendes Verhalten kann zudem gezielt trainiert werden – insbesondere, wenn potenzielle Situationen im Vorfeld mental durchdacht und reflektiert werden.

Perspektive

Eine lebendige Demokratie stützt sich nicht primär auf Überwachungstechnik oder polizeiliche Präsenz – sie wird getragen von Menschen, die auch in angespannten Situationen mutig, besonnen und handlungsfähig bleiben.

Konflikte sind nicht immer vermeidbar – doch ihr Verlauf lässt sich gestalten: durch wertebasierte Bildung, durch ethische Reflexionsfähigkeit und durch gezielte Stärkung der eigenen Selbstwirksamkeit.

Der nachhaltige Weg zu öffentlicher Sicherheit führt nicht allein über Kontrolle, sondern über Kompetenzaufbau – individuell, gemeinschaftlich und institutionell.

Notwendig ist eine gesamtgesellschaftliche Investition in soziale Lernräume: in Schulen, Vereinen, Jugendzentren und Arbeitskontexten. Dort können Fähigkeiten wie Mut, moralische Urteilsfähigkeit und empathisches Handeln entwickelt und trainiert werden. Zivilcourage ist kein angeborenes Merkmal – sie ist erlernbar, wenn Raum für Übung, Reflexion und persönliche Entwicklung geschaffen wird.

Sicherheit entsteht nicht durch Vereinzelung oder technologische Kontrolle, sondern durch tragfähige, vertrauensbasierte Gemeinschaften – ob im Quartier, im digitalen Raum oder am Arbeitsplatz. Menschen, die sich als Teil eines größeren Ganzen begreifen, übernehmen Verantwortung – insbesondere in kritischen Momenten.

Eine resiliente Demokratie braucht daher mehr als Gesetze und Infrastruktur: Sie benötigt eine gelebte Kultur des Hinschauens, des Zutrauens und der praktischen Zivilität. Die Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, auf Bedrohungen angemessen zu reagieren und solidarisch einzustehen, ist das Ergebnis bewusster Förderung – und zentral für eine offene, sichere und zukunftsfähige Gesellschaft.

Referenzen und rechtliche Grundlagen

Gesetzliche Grundlagen

Fachliteratur & Konzepte

Diese Quellen bilden das interdisziplinäre Fundament des Artikels „Zivilcourage & Selbstschutz – Handlungssicherheit im Ernstfall“. Sie vereinen juristische Klarheit, ethische Orientierung, psychologische Erkenntnisse und praktische Trainingsansätze zu einem integrativen Kompetenzrahmen für zivilgesellschaftliches Handeln unter Druck.

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