Bernarda Albas Haus – Ethik, Psychologie und Verantwortung im Spiegel eines Dramas

Bernarda Albas Haus – Lebensführung in sieben Dimensionen

Ethik, Psychologie und Selbstverantwortung als Kompass für ein würdiges Leben – Eine Analyse des Dramas von Federico García Lorca

Veröffentlicht: 23. Juni 2025
Mathias Ellmann

Mathias Ellmann – Autor, Trainer & Dozent für Ethik, Selbstführung und gesellschaftliche Resilienz. Mehr unter gerechte-selbstbehauptung.de

Einleitung

Diese Analyse entwickelt ein integriertes Verständnis ethischer, psychologischer und gesellschaftlicher Lebensführung – exemplarisch beleuchtet am Drama Bernarda Albas Haus von Federico García Lorca. Ziel ist die Herausarbeitung jener Dimensionen, deren Fehlen zur Tragödie führt: innere Klarheit, persönliche Autonomie, verantwortungsbewusstes Handeln und zwischenmenschliche Reife.

Angeregt wurde die vorliegende Analyse durch eine eindrucksvolle Inszenierung von Bernarda Albas Haus am Deutschen Schauspielhaus Hamburg . Die Aufführung verband formale Strenge mit psychologischer Tiefe und eröffnete einen Zugang zu den ethischen und gesellschaftlichen Konflikten des Stücks.

Das Stück dient als Spiegel existenzieller Themen: Unterdrückung und Aufbegehren, Gehorsam und Selbstbestimmung, Schuld und Verantwortung. Die sieben analysierten Dimensionen erschließen zentrale Problemfelder menschlicher Lebensgestaltung – nicht abstrakt, sondern konkret verankert in Handlung, Sprache und Struktur des Dramas.

Der Zugriff ist interdisziplinär: Philosophische Ethik, psychologische Dynamiken und soziale Rahmenbedingungen werden miteinander verbunden, um das Geschehen im Haus von Bernarda Alba nicht nur darzustellen, sondern verstehbar zu machen. Ethik wird hier nicht als Normenkatalog begriffen, sondern als Haltung zur Welt – verkörpert in Figuren, Konflikten und Entscheidungen.

In einer Zeit innerer Unsicherheit und äußerer Umbrüche wirft das Stück zentrale Fragen auf: Wie entsteht Würde? Was verhindert Verantwortung? Und welche Bedingungen braucht ein Leben in Freiheit? Die folgende Analyse will nicht bewerten, sondern klären – und damit einen Beitrag leisten, das Drama nicht nur als literarisches Werk, sondern als ethischen Denkraum zu erschließen.

Die Einleitung schafft den Rahmen für eine integrale Auseinandersetzung mit dem Drama Bernarda Albas Haus. Sie zeigt, dass die dargestellten Konflikte weit über die Bühne hinausweisen – und ethische, psychologische und gesellschaftliche Orientierungsfragen unserer Gegenwart berühren. Im Zentrum steht die Frage: Was geschieht mit Menschen, wenn ethische Lebensführung systematisch verhindert wird?

I. Maximen für menschliches Handeln

Bezug zum Stück: In der Inszenierung von Bernarda Albas Haus wird eine patriarchal geprägte Tradition ins Zentrum gerückt, in der weibliche Selbstbestimmung systematisch unterdrückt wird. Wie es in der offiziellen Stückbeschreibung des Deutschen Schauspielhauses heißt: „Die Tür ist zu – das Haus wird zum Gefängnis.“ Bernarda setzt die gesellschaftlich legitimierte Kontrolle mit Gewalt durch. Die daraus entstehende Spannung zwischen Gehorsam und innerem Freiheitsdrang, zwischen familiärer Macht und individueller Würde, eignet sich exemplarisch zur Anwendung grundlegender ethischer Maximen.

Frage: Wie soll ich handeln?

Das ethische Fundament bildet den inneren Kompass unseres Handelns – insbesondere in Situationen, in denen äußere Regeln versagen, Emotionen dominieren oder die Ambivalenz der Lage schnelle Orientierung erschwert. Es geht darum, tragfähige Prinzipien zu kultivieren, die über Tagesmeinungen, Gruppendruck oder kurzfristige Vorteile hinausweisen.

Kantische Maximen (Pflichtethik)

Diese vier Grundsätze bilden das ethische Rückgrat der Kantischen Pflichtethik. Sie laden dazu ein, das eigene Handeln nicht nur zu rechtfertigen, sondern zu begründen – rational, nachvollziehbar und universalisierbar.

Ulpians Gerechtigkeitsformel

Die antike Formel des Juristen Domitius Ulpian benennt drei grundlegende Prinzipien eines gerechten Zusammenlebens. Im Drama Bernarda Albas Haus werden diese systematisch verletzt – was die Tragweite moralischer Ordnung und ihre Missachtung sichtbar macht:

Aufklärung als ethische Haltung

Konkrete Anwendungsfelder

So wird deutlich: Bernarda Albas Haus ist nicht nur ein Stück über Unterdrückung, sondern auch ein Spiegel für ethische Fragen unserer Zeit – über Macht, Freiheit, Verantwortung und den Mut zur Selbstbestimmung.

II. Menschenrechte, Moral und Justiz

Bezug zum Stück: In Bernarda Albas Haus wird ein repressives Familiensystem dargestellt, das sich auf traditionelle moralische und soziale Normen stützt, jedoch keine rechtliche Kontrolle oder individuelle Rechtsgarantien kennt. Die Töchter haben weder gesetzliche Schutzrechte noch gesellschaftlich anerkannte moralische Ansprüche, ihre Freiheit, Würde oder Sexualität zu verteidigen. Dieses Spannungsfeld zwischen moralischem Anspruch und rechtlicher Leere zeigt exemplarisch die Differenz von Menschenrechten, gesetzlichen und moralischen Rechten.

Ausgehend von der kantischen Ethik – insbesondere dem Autonomieprinzip und dem Postulat der unbedingten Menschenwürde – ergibt sich eine Unterscheidung grundlegender Rechte nach Herkunft, Bindekraft und Durchsetzbarkeit. Dabei lassen sich drei zentrale Kategorien differenzieren: Menschenrechte, gesetzliche Rechte und moralische Rechte. Diese Kategorien überschneiden sich in vielen praktischen Kontexten, beruhen jedoch auf unterschiedlichen normativen Fundamenten.

Arten von Rechten im Vergleich

Juristisch oder moralisch – warum der Unterschied zählt

Viele fundamentale Rechte – etwa das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit oder Meinungsfreiheit – gelten sowohl als moralisch begründet als auch gesetzlich geschützt. Doch die beiden Ebenen folgen unterschiedlichen Logiken. Während das juristische Recht auf kodifizierte Normen und staatliche Durchsetzbarkeit beruht, wurzelt das moralische Recht in ethischer Überzeugung.

Beispiel im Stück: Adela folgt einem moralischen Recht auf Selbstbestimmung und gelebte Sexualität – entgegen familiärer und sozialer Regeln. Rechtlich wäre ihr Handeln nicht geschützt, moralisch jedoch nachvollziehbar. Bernarda hingegen setzt eine als rechtlich legitim empfundene Ordnung durch – ohne moralische Rechtfertigung.

Auch heute gilt: Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim – und nicht alles, was moralisch geboten wäre, ist rechtlich durchsetzbar. Der Einsatz für Gerechtigkeit erfordert deshalb beides: eine kritische Reflexion der geltenden Gesetze und eine ethische Haltung, die über formale Legalität hinausweist.

Menschenrechte sind ethisch begründet, aber erst durch gesetzliche Verankerung gesellschaftlich wirksam. Recht ohne Moral ist leer – Moral ohne Recht bleibt oft machtlos. Nur ihr Zusammenspiel schützt Freiheit, Würde und Gerechtigkeit nachhaltig.

Begriffsunterscheidung

Zur differenzierten Beurteilung rechtlicher und moralischer Fragen ist es hilfreich, drei zentrale Begriffe klar voneinander zu unterscheiden:

So zeigt sich im Drama ein typisches Spannungsverhältnis: Gesetzesähnliche Regeln ohne rechtliche Kontrolle treffen auf moralischen Protest ohne gesellschaftliche Wirkung. Die Katastrophe am Ende verweist auf das Scheitern beider Seiten – und die Notwendigkeit, Recht und Moral in Einklang zu bringen.

III. Grundmotivationen (Grundbedürfnisse)

Bezug zum Stück: In Bernarda Albas Haus werden zentrale menschliche Grundbedürfnisse systematisch unterdrückt. Die Handlung illustriert eindrücklich, wie die Verweigerung von Autonomie, Anerkennung, emotionaler Bindung und Selbstverwirklichung zu psychischer Destabilisierung und schließlich zur Katastrophe führen kann. Die rigide Ordnung der Mutter Bernarda wirkt dabei wie ein Gegenmodell zu einer bedürfnisorientierten Gesellschaft – und macht sichtbar, wie tief psychologische Grundmotivationen in ethischen Konflikten wirksam werden.

Menschen äußern Wünsche, die häufig auf tieferliegende, teils unbewusste Bedürfnisse zurückgehen. Wer diese erkennt, kann Angebote oder Führungsmaßnahmen gezielt mit dem inneren Motivationssystem des Gegenübers verknüpfen. Die Psychologie hat im Lauf der Zeit verschiedene Ansätze entwickelt, um diese Bedürfnisse zu klassifizieren.

Monistische vs. pluralistische Motivationsansätze

Während Sigmund Freud in seiner psychoanalytischen Theorie den Sexualtrieb (Libido) als zentrales menschliches Grundmotiv identifizierte – ein Antrieb, der aus dem Unbewussten wirkt und viele Handlungen symbolisch oder direkt beeinflusst –, stellte Alfred Adler dem eine alternative Perspektive gegenüber: Für ihn lag das primäre Motiv im Streben nach Geltung, Überlegenheit und sozialer Anerkennung. Beide Ansätze sind im Stück sichtbar: Sowohl sexuelles Begehren als auch das Streben nach gesellschaftlichem Status prägen die Konfliktdynamik.

Im Gegensatz dazu stehen pluralistische Modelle, die wie in Bernarda Albas Haus nahelegen, dass multiple Grundbedürfnisse gleichzeitig aktiv sind – und in ihrer Frustration zu destruktiven Entwicklungen führen. Die Tragödie ergibt sich aus dem Scheitern einer inneren Bedürfnisbalance unter äußerem Zwang.

Psychologisch-praktische Grundbedürfnisse (dynamische Bedürfnis-Pyramide)

Die nachfolgend dargestellten fünf Grundbedürfnisse bilden zentrale psychodynamische Antriebskräfte menschlichen Verhaltens unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen. Ihre Relevanz variiert situativ: Sobald ein Bedürfnis ausreichend erfüllt ist, rückt ein anderes in den Vordergrund. Diese Verschiebung erfolgt nicht linear, sondern zyklisch und kontextabhängig.

  1. Soziale Anerkennung: Im Stück zeigt sich dieses Bedürfnis besonders bei den Töchtern, die nach Aufmerksamkeit, Schönheit, Wertschätzung oder Heiratsoptionen streben – und in einer Umgebung leben, die jegliche Außenwirkung unterbindet.
  2. Sicherheit und Geborgenheit: Trotz aller Strenge bietet Bernardas Haus eine scheinbare Ordnung. Doch diese ist nicht schützend, sondern repressiv. Die psychologische Sicherheit fehlt – stattdessen herrscht Angst.
  3. Vertrauen und emotionale Bindung: Zwischen den Schwestern herrschen Misstrauen und Konkurrenz. Emotionale Nähe wird durch Kontrolle ersetzt. Nur in heimlichen Momenten zeigen sich Fragmente von Bindung.
  4. Selbstachtung und moralische Kohärenz: Adela ist die Figur, die am stärksten nach einem kohärenten, selbstbestimmten Leben strebt. Ihre Rebellion ist Ausdruck moralischen Eigenanspruchs – und scheitert an der äußeren Wirklichkeit.
  5. Autonomie und Selbstverantwortung: Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung wird systematisch verweigert. Das Stück zeigt, wie daraus psychische Reaktanz, Widerstand und schließlich Tragik erwachsen.

Motivation und Wille

In Bernarda Albas Haus ist der Wille der Töchter ein Spannungsfeld zwischen innerem Drang und äußerem Verbot. Besonders Adela zeigt einen stark emotionalisierten Impuls zur Selbstbestimmung, der aus vergangenen Erfahrungen und innerer Überzeugung gespeist wird. Ihr Wille steht exemplarisch für die psychodynamische Kraft unterdrückter Bedürfnisse.

Die psychologische Perspektive auf den Willen als gelerntes, motiviertes Handlungsmuster hilft zu verstehen, warum einzelne Figuren trotz Gefahr oder Angst aufbegehren – und warum Bernardas Macht letztlich an der inneren Dynamik der Töchter zerbricht.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Tragik des Stücks liegt nicht nur in der äußeren Gewalt, sondern in der systematischen Frustration zentraler menschlicher Grundbedürfnisse. Sie offenbart, wie tief Motivation und Ethik miteinander verknüpft sind – und wie essenziell eine soziale Ordnung ist, die Entwicklungsspielräume und Anerkennung bietet.

IV. Gesellschaftliche Orientierung

Frage: Wie funktioniert menschliches Zusammenleben?

Bezug zum Stück: In Bernarda Albas Haus ist das Haus nicht nur Wohnraum, sondern ein Mikrokosmos repressiver Gesellschaftsordnung. Die Inszenierung macht sichtbar, wie traditionelle Machtstrukturen, rigide Normen und fehlende Teilhabe den sozialen Zusammenhalt zerstören. Der vermeintliche Schutz verwandelt sich in soziale Kontrolle; Gemeinschaft wird zur Zwangsgemeinschaft. Das Stück illustriert eindringlich, wie autoritäre Systeme Legitimität beanspruchen, ohne moralische oder demokratische Grundlage – ein Ausgangspunkt zur Reflexion gesellschaftlicher Ordnung und Freiheit.

Sozialvertragstheorien

Die Idee des Sozialvertrags bildet ein zentrales Denkmuster politischer Philosophie seit der frühen Neuzeit. [...]

Freiheit als politische, ethische und existentielle Kategorie

Justitia – Symbol institutioneller Gerechtigkeit

Die Justitia fehlt in Bernardas Haus – und gerade das macht das Drama so erschütternd. Wo es keine Institutionen gibt, die Konflikte gerecht regeln, herrscht Willkür. Das Stück zeigt die Zerbrechlichkeit von Recht ohne Gerechtigkeit – und die ethische Dringlichkeit, Strukturen für faire Verfahren zu schaffen.

Die gesellschaftliche Orientierung hilft, sich selbst nicht nur als Individuum, sondern als Teil eines größeren, auf Regeln und Werte gegründeten Miteinanders zu begreifen. Bernarda Albas Haus verdeutlicht, was geschieht, wenn diese Orientierung fehlt: Misstrauen ersetzt Vertrauen, Gehorsam tritt an die Stelle von Verantwortung, und Isolation ersetzt Solidarität. Das Stück ruft dazu auf, gesellschaftliche Ordnung nicht nur als Machtsystem zu sehen, sondern als gemeinsamen Raum für Gerechtigkeit, Freiheit und menschliche Würde – getragen von reflektierter Teilhabe und moralischer Integrität.

V. Psychologische Rollenmuster: Opfer – Verfolger – Retter

Frage: Welche unbewussten Muster prägen unser Verhalten – und wie lassen sie sich durchbrechen?

Das sogenannte Dramadreieck (nach Stephen Karpman) beschreibt drei typische Rollen, die Menschen in dysfunktionalen Interaktionen einnehmen (Karpman, Petitcollin): Opfer, Verfolger und Retter. Diese Rollen sind nicht festgelegt – sie wechseln oft unbemerkt – und basieren auf unbewussten Motiven, wie der Suche nach Anerkennung, Macht oder Bestätigung.

Die drei Rollen im Stück Bernarda Albas Haus

In der Inszenierung von Bernarda Albas Haus lassen sich alle drei Rollen des Dramadreiecks erkennen und analysieren:

Dynamik und Eskalation

Die Interaktionen im Haus folgen typischen Mustern des Dramadreiecks. Rollenwechsel sind häufig: Bernarda wird im Affekt zur strafenden Instanz (Verfolgerin), beklagt gleichzeitig selbst ihre Opferrolle als von gesellschaftlichen Zwängen Geleitete. Adela beginnt als Opfer, strebt nach Autonomie, wird dann jedoch von der Familie zur Verfolgerin stilisiert. Die daraus resultierende Eskalation zeigt die destruktive Kraft dieser unbewussten Rollenverteilungen.

Verantwortungsverschiebung und fehlende Autonomie

In Bernarda Albas Haus bleibt die Verantwortung diffus verteilt: Niemand fühlt sich wirklich verantwortlich für das eigene Erleben oder Handeln. Schuld wird zugewiesen – an Tradition, Ehre, Männer oder Schwestern. Diese Verschiebung verhindert echte Kommunikation und mündige Selbstführung.

Ausstieg als Tabubruch

Adelas Versuch, aus der Opferrolle auszubrechen und eine selbstgewählte Beziehung zu leben, wird von der Familie nicht als Akt innerer Reife erkannt, sondern als Bedrohung des Systems bekämpft. Ihr Suizid ist Ausdruck einer Gesellschaft, in der kein Raum für selbstbestimmtes Handeln jenseits der tradierten Rollenmuster besteht.

Bernarda Albas Haus veranschaulicht exemplarisch die destruktive Dynamik des Dramadreiecks. Die dauerhafte Reproduktion von Opfer-, Verfolger- und Retterrollen verhindert individuelle Entwicklung, freie Kommunikation und soziale Reifung. Das Stück macht deutlich, wie notwendig es ist, diese Muster zu erkennen – und zu durchbrechen.

VI. Heilung & Symbolarbeit

Frage: Woher kommt mein Schmerz – und wie finde ich Heilung?

In Bernarda Albas Haus ist Schmerz allgegenwärtig, aber unausgesprochen. Adela rebelliert nicht gegen konkrete Verbote, sondern gegen ein Klima innerer Erstarrung. Ihre Sehnsucht wird zum Austragungsort eines tiefen inneren Mangels. Heilung wäre hier der Schritt in die Selbstwahrnehmung – aber niemand wagt ihn.

Fazit: Bernarda Albas Haus zeigt keine Heilung – sondern das, was geschieht, wenn sie verweigert wird. Das Stück ist ein Appell, den eigenen Schmerz ernst zu nehmen, bevor er zerstörerisch wird. Es lädt ein, das Unsagbare auszusprechen – nicht um anzuklagen, sondern um sich selbst zu begegnen.

VII. Handlung & Entscheidung

Frage: Wie treffe ich gute Entscheidungen im Alltag?

In Bernarda Albas Haus gibt es kaum echte Entscheidungen – nur Reaktionen. Fast alle Figuren handeln aus Angst, Pflichtgefühl oder unbewussten Loyalitäten. Was als Entscheidung erscheint, ist oft ein Reflex auf familiären Druck oder gesellschaftliche Zwänge. Nur Adela scheint zu wählen – doch auch ihre Handlung bleibt ambivalent: rebellisch, aber nicht frei.

Reaktivität – Verhalten im Autopilot-Modus

Bernarda reagiert auf gesellschaftlichen Erwartungsdruck mit autoritärem Verhalten. Martirio verrät aus Eifersucht. Die Schwestern bleiben passiv aus Angst. Diese Figuren zeigen typische Muster reaktiven Verhaltens (van Stappen, Covey):

Proaktivität – Wertgeleitetes Handeln im Einflussbereich

In Lorcas Drama fehlt fast durchgehend proaktives Verhalten. Die Figuren handeln selten aus innerer Überzeugung. Selbst Adelas vermeintlicher Aufbruch ist eine Flucht – keine bewusste Gestaltung. Symbolisch steht das Stück für das Scheitern proaktiver Lebensführung unter repressiven Bedingungen.

Was hätte proaktives Verhalten erfordert (van Stappen)?

Das PROACT-Modell – Systematische Entscheidungsfindung

Übertragen auf das Stück lassen sich folgende hypothetische Handlungsalternativen denken (Levine, Hammond et al.):

  1. Problem definieren: Die erstickende Familienstruktur verhindert Selbstbestimmung.
  2. Ziele klären: Persönliche Freiheit, ehrliche Beziehungen, emotionale Wahrheit.
  3. Alternativen entwickeln: Offener Dialog, kollektiver Widerstand, symbolischer Protest.
  4. Konsequenzen abwägen: Konflikte mit der Mutter vs. Erhalt innerer Integrität.
  5. Trade-offs erkennen: Sicherheit gegen Freiheit, Zugehörigkeit gegen Wahrheit.
  6. Unwägbarkeiten einschätzen: Mögliche Gewalt durch Bernarda, soziale Ausgrenzung.
  7. Risikobereitschaft reflektieren: Was bin ich bereit zu verlieren für Selbstbestimmung?
  8. Langfristige Folgen bedenken: Entweder Reproduktion des Systems – oder ein selbstbestimmtes Leben.

Fazit: Bernarda Albas Haus macht sichtbar, wie schwer es fällt, Entscheidungen zu treffen, wenn äußere Kontrolle und innere Angst dominieren. Das Stück ist eine Warnung: Wer nicht bewusst handelt, wird vom System geformt – und bleibt gefangen in fremden Skripten.

VIII. Fazit & Anwendung

Frage: Was zeigt Bernarda Albas Haus über ethische Lebensführung?

Lorcas Drama verdeutlicht auf exemplarische Weise, was geschieht, wenn zentrale Dimensionen bewusster Lebensführung fehlen: Ethik wird durch Konvention ersetzt, Verantwortung durch Gehorsam, Beziehung durch Kontrolle. Die sieben Themenfelder – ethische Orientierung, psychologische Selbstführung, emotionale Intelligenz, gesellschaftliche Teilhabe, Heilung, Entscheidungskompetenz und Symbolarbeit – erscheinen im Stück nicht als gelebte Praxis, sondern als Leerstellen.

Die Figuren bleiben in familiären und kulturellen Skripten gefangen, weil sie sich ihren inneren Konflikten nicht stellen. Entscheidungen werden vermieden oder repressiv durchgesetzt, Schmerz wird nicht verarbeitet, sondern weitergegeben. Die Tragödie resultiert nicht aus einem einmaligen Fehler – sondern aus einer systematischen Verweigerung von Reife, Dialog und Selbsterkenntnis.

In diesem Sinn ist Bernarda Albas Haus kein historisches Sittenbild, sondern ein Spiegel innerpsychischer und sozialer Dynamiken. Das Stück ruft dazu auf, Verantwortung nicht zu delegieren – sondern zu übernehmen: für sich selbst, für Beziehungen und für das größere Ganze. Es macht deutlich: Ethische Lebensführung beginnt im Innersten – und hat politische wie zwischenmenschliche Folgen.

Fachliteratur & Konzepte

I. Maximen für menschliches Handeln

Die hier versammelten Werke thematisieren Grundlagen ethischen Handelns. Sie sind zentral, um die moralischen Konflikte und das Pflichtverständnis in Lorcas Drama kritisch zu analysieren. Kants Pflichtethik und Ulpians Rechtsprinzipien liefern normative Maßstäbe, an denen Bernardas Handeln gemessen werden kann.

II. Menschenrechte, Moral und Justiz

Diese Literatur ermöglicht die Unterscheidung von gesetzlichen und moralischen Rechten. Sie hilft, die rechtliche Leere in Bernardas Haus im Licht moderner Menschenrechtskonzepte zu begreifen.

III. Grundmotivationen (Grundbedürfnisse)

Die psychologischen Werke zeigen, wie zentrale Bedürfnisse – etwa nach Autonomie, Bindung oder Anerkennung – in Lorcas Drama frustriert werden. Sie liefern das Fundament für eine motivationspsychologische Deutung der Figuren.

IV. Gesellschaftliche Orientierung

Diese Werke analysieren gesellschaftliche Machtverhältnisse und den Status des Individuums im sozialen Kontext. Sie ermöglichen eine Einordnung von Bernardas Haus als symbolische Mikrostruktur politischer Systeme.

V. Psychologische Rollenmuster: Opfer – Verfolger – Retter

Die Konzepte des Dramadreiecks bieten ein präzises Analyseinstrument für die dysfunktionalen Beziehungen in Bernardas Haus. Sie erklären, wie destruktive Muster entstehen und sich stabilisieren.

VI. Heilung & Symbolarbeit

Dieses Werk zeigt Wege zur inneren Versöhnung und Kommunikation auf. Es eröffnet Perspektiven, wie unausgesprochener Schmerz transformiert werden kann – eine zentrale Leerstelle im Drama.

VII. Handlung & Entscheidung

Diese Bücher liefern konkrete Modelle für verantwortungsvolle Entscheidung und proaktives Verhalten. Sie helfen zu verstehen, warum die Figuren im Stück so selten bewusst und frei handeln – und was Alternativen wären.

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